Es ist der 23. Mai 2018. Um 2 Uhr nachts klingelt es an der Tür. Aus dem Tiefschlaf gerissen und mit einem Herzschlag in Geschwindigkeit eines Formel-1-Autos schauen wir uns an. Wer zum Geier will uns hier zu dieser unchristlichen Stunde ärgern? Ich, noch halb nackt, bin zu langsam beim Anziehen. Line öffnet nach einem Blick durch den Spion die Tür. Zwei Polizeibeamte, männlich und weiblich, standen davor. Was haben wir verbrochen? Werden wir verhört?
Entwarnung. Sort of. Eine Hinterlassenschaft des 2. Weltkriegs wurde in Dresden-Löbtau entdeckt. Alle 9000 Anwohner des Viertels werden vorsichtshalber evakuiert, darunter auch viele Alte, die womöglich selbst den Bombenhagel 1945 miterlebt haben.
„Sie wissen schon, dass hier eine Bombe gefunden wurde?“, fragt die Polizistin. Natürlich nicht. Woher auch? MDR schalten wir nur selten ein, Dresden Fernsehen gar nicht und Radio läuft allenfalls beim Aufwaschen.
Tatsächlich wurde die rund 250 Kilogramm schwere Fliegerbombe schon am Vortag bei Bauarbeiten freigelegt. Ein Blindgänger britischer Herkunft, Löbtauer Str./Ecke Wernerstraße. Diese Info ist spurlos an uns vorübergegangen. Lautsprecherdurchsagen? Keine gehört.
Spätestens 3 Uhr müssen wir raus sein. Tatsächlich klingelt die Polizei noch viel eher ein zweites Mal an der Tür. Offenbar packen wir ihnen nicht schnell genug. Anziehen, Zähne putzen, Portemonnaies, Ausweise und Krankenkarten einpacken. Was nimmt man sonst noch mit, wenn man nicht weiß, wann man zurückkehren wird?
Notdürftig versorgen wir unsere zwei Katzen. Alle drei Schälchen mit frischem Wasser befüllen. Einen Haufen in den Futternapf machen, etwas Trockenfutter hinwerfen. Wir sehen uns in ein paar Stunden wieder, so unsere Hoffnung.
Wir verzichten auf die Notunterkunft auf dem Messegelände. Statt einem DVB-Shuttlebus dorthin zu nehmen, schwingen wir uns aufs Fahrrad. Unser Ziel: Die Schwiegereltern, die uns dankenswerterweise Obdach gewähren. Ist ja nur für eine Nacht, wird schon gehen.
Wenn es nur so einfach wäre. Nach einer unruhigen Nacht auf einer durchgelegenen Matratze blicke ich auf mein Handy. Evakuierung immer noch nicht abgeschlossen. Bei der Räumung der Geriatrischen Klinik kommt es zu Verzögerungen. Die Dresdner Verkehrsbetriebe leiten die Straßenbahnlinien 2, 6, 7 und 12 um, die sich sonst ungehindert durch Friedrichstadt und Löbtau fressen.
Die Einsatzkräfte ziehen einen Sperrkreis um die Bombe. Falls das Ding hochgeht, ist besser keine Menschenseele in der Nähe. Splitterteile könnten bis zu 800 Meter weit fliegen.
10:04 Uhr vermeldet die Polizei via Twitter:
„Die Evakuierung ist nun abgeschlossen. Unsere Kollegen schließen nun die Absperrungen und kontrollieren den Absperrbereich nochmals. Im Anschluss beginnt die Entschärfung der #Fliegerbombe in #Dresden Bitte den Bereich nicht betreten!“
Okay, denke ich mir. Kann dann ja nicht mehr lange dauern, bis die Spezialisten des Kampfmittelbeseitigungsdienstes die Bombe entschärft haben. Trotzdem kann ich mich kaum auf meine Arbeit außerhalb des Sperrbereiches konzentrieren. Immer wieder scrolle ich durch den Twitter-Feed, um keine Neuigkeit zu verpassen.
Gegen halb zwölf heißt es, dass der mechanische Zünder freigelegt ist. Doch der Sprengmeister gibt keine Hoffnung auf ein schnelles Ende des Nervenkriegs. Die Detonationsgefahr ist höher als gedacht. Über die Herangehensweise wird weiter beraten. Von „mindestens 3 Stunden“ ist die Rede. Ich stelle mich auf einen weiteren Abend bei den Schwiegereltern ein, hoffe allerdings, spätestens in der Nacht wieder in den eigenen vier Wänden zu sein.
12:27 Uhr. „Aktuell ist die Entschärfung unterbrochen, da die Bombe im weiteren Verlauf vermutlich umsetzen wird“, tickert es ein. Umsetzen. Eine charmante Umschreibung für die brisante Situation – mit anderen Worten, sie wird vermutlich explodieren.
Dämm-Material wird organisiert, um das Gebiet um die Bombe so gut es geht zu schützen, sollte sie in die Luft gehen. Vorwiegend Betonblöcke, wie sie in Fußgängerzonen zur Terrorabwehr eingesetzt werden, riesige Papierbündel und Sandsäcke. Es folgen Twitter-Videos, in denen der Polizeisprecher über die Lage aufklärt. Immer wieder betonen die Ordnungshüter, dass ein Betreten des Sperrkreises untersagt ist. Dann rollen die ersten Dämm-Materialien auf LKW-Kolonnen ein. Vorbei an der Fahrradwerkstatt Lebenshilfe e.V., die noch gerade so außerhalb des Sperrkreises liegt und wo ich öfter mal für wenig Geld mein Rad reparieren lasse, unter der Bahnbrücke hindurch, vorbei an Lidl und Altenheim.
Nach über 20 Stunden beenden die ersten der mehr als 700 Polizisten ihren Dienst, während andere ihre Schicht vorziehen. Die Polizei aus Thüringen steht mit Rat und Tat zur Seite.
Immer noch kein Ende in Sicht. Der Evakuierungsbereich wird sogar noch gen Norden erweitert. Schöner Mist. Es wird also weiter evakuiert, diesmal an der Semmelweisstraße. Wir gehen im nicht-geschlossenen Lidl in Dresden-Cotta Abendbrot kaufen. Nudelauflauf, um die Stimmung zu heben.
Um 19:37 Uhr ist die zweite Evakuierung vorbei. Auch der Schutzwall an der Löbtauer Straße steht. Nun kann die Entschärfung unter Flutlicht beginnen. Nicht einmal die Polizei darf sich im Sperrbereich aufhalten. Zeitgleich gehen in einigen Stadtbezirken die Lichter aus. Vorsorglich wird die Straßenbeleuchtung abgestellt.
Ein sachkundiger Twitter-Nutzer erklärt, dass dies geschieht, damit es im Falle einer Explosion nicht zu Spannungsspitzen kommt, die das gesamte Stromnetz von Dresden lahm legen.
Halb zwölf in der Nacht macht es PENG, während ich tief und fest schlummere. Bekomme nur via Twitter mit, dass der Knall bis in die anderen Stadtteile hinein zu hören war. Über Dresden stieg dabei eine dicke Rauchsäule auf, wie Youtubevideos belegen. „Wir prüfen aktuell den Ursprung des Knalls“, schreibt der Pressedienst der Polizei.
Später ist von einer „Teildetonation“ der Bombe die Rede. Die Gefahr ist damit noch nicht vorüber, da angenommen wird, dass sich immer noch explosives Material darin befindet.
Drumherum hat sich ein Feuer entwickelt, welches erst vollständig ausgehen und abkühlen muss, bevor der Kampfmittelbeseitigungsdienst wieder ans Werk kann. Hubschrauber kreisen über dem Explosionsort, da alle Einsatzkräfte nur aus sicherer Entfernung zuschauen können. Schließlich stoßen Löschroboter hinzu, um die Bombe herunterzukühlen.
Inzwischen ist Donnerstag (24. Mai). Wir sind zum Bahnhof Mitte aufgebrochen, um uns selbst einen Überblick zu verschaffen und ggf. selbst eine Gießkanne in die Hand zu nehmen, um die Sache zu beschleunigen. In Höhe des Lidls ist am Absperrband Endstation. Mehrere Kamerateams, unter anderem vom MDR und Dresden Fernsehen, lauerten auf Neuigkeiten. In ihrem Rücken hält sich der Polizei-Pressesprecher mit einem Social Media Bediensteten auf. Ich schieße selbst ein paar Bilder und drehe Videos, bevor ich mittels einer gekonnten Drehung ein Selfie schieße.
Im Konsum World Trade Center kaufen wir uns ein Eis. Dabei bekleckere ich mich mit Schokosoße und wasche mir die Hände im Brunnen (bleibt unter uns!).
Wir entscheiden uns (nach entsprechend zeitlichem Abstand zum Eis inkl. Arztbesuch, der nicht durch das Eis verursacht wurde), erstmal im Poco Domäne etwas essen zu gehen. Schnitzel mit Pommes, auch nicht schlecht. Aber über 5 Euro für dieses aufgewärmte Zeug? In der Not frisst der Teufel fliegen und greift dafür tief in die Tasche.
Zwischendurch tweete ich. Ich tweete was das Zeug hält. Ich tweete, wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben gemacht habe. Vornehmlich über unsere Katzen, die seit gut zwei Tagen im Dunkeln hocken und vermutlich schon gar nichts mehr zu Futtern und zu Trinken haben. Unsere Anspannung könnte kaum höher sein.
Ich tausche mich mit anderen Haustierhaltern aus, denen es ähnlich geht. Später lese ich, dass ein Meerschwein die Durststrecke nicht überlebt hat.
Das Interessanteste am Tage: Eine Frau vom Mitteldeutschen Rundfunk ruft an. Quetscht mich über meine Katzen aus und wie es ihnen wohl ergehen mag. Mit dem Interview landete ich im Ticker auf mdr.de. Später sprechen mich allerlei Bekannte und Kollegen auf dieses „Interview“ an. Ich bin in kürzester Zeit zu einer kleinen Berühmtheit geworden. Jetzt spiele ich mit dem Gedanken, mir Autogrammkarten zu besorgen. Muss aber warten, schließlich gibt es noch eine Bombe zu entschärfen. Ganz Dresden bangt mit den Experten vor Ort.
Der Luftraum ist noch immer gesperrt. Überall Staus in der Stadt. Die blauen Mülltonnen werden nicht geleert, teilt der Entsorger Veolia mit. Weiterhin besteht „akute Explosionsgefahr“ (nicht in den Mülltonnen). Am Donnerstagnachmittag überkommt uns die Sorge, noch eine Nacht länger in unserer Notbehausung bleiben zu müssen bzw. dass es den Katzen langsam zu bunt wird. Katze frisst Kater. Kater frisst Katze. Oder sonstwas.
Polizeibeamte wollen uns partout nicht durchlassen. „Sehen Sie das Haus hinter dem Penny? Nur 2 Minuten entfernt, da wohnen wir! Geht auch ganz schnell. Versprochen!“ Auch mein bettelnder Welpenblick bringt nichts. Verständlich. Wer ist schuld, wenn ich explodiere? Richtig, der Polizist, der mich durchgelassen hat.
Spiele mit dem Gedanken, mich in der kommenden Nacht komplett in schwarz zu kleiden und mit Tarnfarbe im Gesicht zur Wohnung zu robben.
13:10 Uhr begibt sich der Sprengmeister zur Bombe, die in unmittelbarer Nähe zur Jet-Tankstelle herumliegt. Fazit: Es muss bis mindestens 14:45 Uhr unermüdlich weitergekühlt werden. Sachens Innenminister Wöller darf auch mal was in die Kameras sagen und bedankt sich bei den Einsatzkräften.
Währenddessen trudeln weiter Kleider- und Nahrungsmittelspenden ein. Als wäre wieder Krieg. Die Hilfsbereitschaft der Dresdner ist enorm. Da soll noch mal einer sagen, jeder denkt nur bis zum Kniestrumpf und zurück.
Um kurz nach 4 wird eine 10 Zentimeter dicke Rußschicht mittels Spezialbagger von der Bombe abgetragen. War es das endlich?
Wir fahren zurück zu den Schwiegereltern. Eine Polizeieinheit stapelt am Emerich-Ambros-Ufer Absperrkegel übereinander. Uns überholt ein Polizeiauto. Wir denken uns nichts dabei.
Dort angekommen, schaue ich in den Twitter-Feed und lese diesen Eintrag von 16:37 Uhr:
„Die Fliegerbombe ist entschärft! Die Sperrungen werden aufgehoben. Die Anwohner können zurück in ihre Wohnungen. Wir danken allen für die Unterstützung und das gezeigte Verständnis.“
Deswegen also die Kegel. Deswegen das Stapeln. Deswegen das Polizeiauto. Hätten wir mal 5 Minuten länger gewartet. Scheiß drauf. Wir sind glücklich, wieder zu unseren Katzen zu können. Also steigen wir gleich wieder aufs Rad und fahren zurück. Keine zehn Minuten nach der Meldung sind die Straßen wieder gerammelte voll. Als wäre nie etwas gewesen. Auch das ist Dresden. Back to reality.
Zeitgleich gibt Sprengmeister Holger Klemig sichtlich erleichtert ein Interview. Er freut sich auf sein „Hobby“ – nach dem Stress erstmal eine Zigarre zu rauchen.
Wir schließen die Wohnungstür auf und sehen unsere zwei haarigen Geister. Gucken bisschen verwirrt. In der Küche liegen Hühnerknochen und Wurstpelle, die sie sich aus dem Müll gefischt haben. Wasser ist noch reichlich in den Näpfen. Haben wir ihnen nicht gesagt, dass viel trinken wichtig für die Nieren ist? Seis drum, sie haben gut gehaushaltet und sind wohlauf. Sind doch robuster als gedacht, die Vierbeiner.
Ich bringe den Müll raus und sehe die Nachbarin mit zu kleinen Knubbeln gezwirbelten Haaren. Offenbar macht sie sich Locken. Ich entscheide mich, mit der Kamera zum Fundort zu laufen. Andere hatten dieselbe Idee. Alles verkohlt, der Wahnsinn. Ein Polizist stolpert buchstäblich über ein schwarzes Papierbündel. Mit Fotos und Video im Gepäck, trete ich den Rückweg an.
Mein Abend endet mit #netflixandchill. Freundin hat sich am Tage ’nen Sonnenstich eingefangen und liegt mit Übelkeit im Bette.
Das Ende aufregender drei Tage in Dresden.